I. Ursprung und Entwicklung der Business Judgement Rule als Standard
Die Business Judgement Rule (BJR) ist ein aus den USA stammendes Konzept zur Beurteilung von Geschäftsentscheiden im Verantwortlichkeitsprozess. Typisch für die Rechtstradition des Common Law wurde die BJR nicht durch einen Gesetzesakt geschaffen, sondern durch die Gerichte entwickelt. Die ersten Hinweise ihrer Anwendung gehen auf den Anfang des 19. Jahrhunderts zurück, ihre inhaltliche Ausgestaltung hat sich seither kontinuierlich weiterentwickelt. Mit anderen Worten, die US-amerikanische BJR ist in ihrer heutigen Form ein Produkt der amerikanischen Rechtsprechung der letzten zweihundert Jahre.
Das Kernanliegen der US-amerikanischen BJR ist der Schutz des Geschäftsführungs-ermessens der Exekutivorgane einer Gesellschaft. So konstatierte der Supreme Court von Alabama bereits im Jahr 1847, dass Schäden aufgrund eines unvorteilhaften Ge-schäftsentscheids keinen direkten Rückschluss auf eine Pflichtwidrigkeit der Exekutivorgane zulassen. Die BJR dient also dazu, ordentliche Geschäftsentscheide von solchen, die unter Ermessensmissbrauch zustande gekommen sind, abzugrenzen und so das Verantwortlichkeitsrecht einzugrenzen. Sie tut dies, indem sie das Augenmerk weg von der inhaltlichen Begründbarkeit hin zu den Formalien eines Geschäftsentscheids verschiebt.
Trotz des Namensbestandteils rule handelt es sich bei der US-amerikanischen BJR nicht um eine eigentlichen Regel. Die Anforderungen der BJR werden nämlich nicht einheitlich gehandhabt. Einzelne Elemente werden in gewissen Bundesstaaten zwingend vorausgesetzt, während sie in anderen gar keine Berücksichtigung finden. Auch innerhalb der einzelnen Bundesstaaten ist die BJR nicht ein starres Regelwerk. Die Flexibilität im Umgang mit der BJR ist im amerikanischen Verständnis jedoch kein Problem, sondern ein Gewinn. Die Regel soll nicht in Stein gemeisselt sein, sondern durch Gerichte weiterentwickelt und den Umständen des Einzelfalls angepasst werden. In diesem Sinne gleicht die BJR mehr einem Standard als einer Regel.
Die Verantwortlichkeit der US-amerikanischen Entscheidungsträger, in deren Zusam-menhang die BJR zur Anwendung kommt, wird im Folgenden kurz dargestellt.
II. Voraussetzungen der Verantwortlichkeit
Mit der Geschäftsführung befassen sich in den USA sowohl das board of directors als auch die executive officers. Beides sind formell bestellte Exekutivorgane der Gesellschaft.
Für eine Haftung des director/officer muss ein damage (Schaden), eine breach of duty (Pflichtverletzung), eine causation (Kausalzusammenhang) und eine culpability (Verschulden) vorliegen. Haftbar ist also dasjenige Exekutivorgan, welches eine ihm obliegende Pflicht verletzt hat. Die einzelnen Exekutivorganpflichten setzen sich in den USA aus dem Gesetz der Gliedstaaten, demjenigen des Bundes und aus dem Common Law zusammen. Obwohl kein abschliessender Pflichtenkatalog für das Exekutivorgan besteht, können mindestens zwei Hauptpflichten ausgemacht werden: eine duty of care (Sorgfaltspflicht) und eine duty of loyalty (Treuepflicht).
Die Sorgfaltspflicht obliegt sowohl dem board of directors als auch den officers. Diese ist allerdings nicht einheitlich definiert, sondern sieht je nach Gliedstaat anders aus. Es existiert allerdings ein über alle Staaten gleichbleibender Kerngehalt. Dieser umfasst einerseits die Pflicht, in guten Treuen zu handeln und andererseits die Pflicht, die Interessen der Gesellschaft zu wahren. Die erforderliche Sorgfalt wird dabei am Verhalten eines sorgfältigen Dritten in vergleichbarer Situation gemessen.
Die Treuepflicht obliegt ebenfalls sowohl dem board of directors als auch den officers. Sie umfasst unter anderem ein Konkurrenzverbot, ein Selbstkontrahierungs- und Doppelvertretungsverbot sowie ein Verbot der Diskriminierung von Minderheitsaktionären.
III. Die konkrete Bedeutung und Ausgestaltung der US-amerikanischen Business Judgement Rule
1. Standard of care und standard of judicial review
Die BJR dient in den USA als Standard zur Überprüfung eines Geschäftsentscheids auf eine allfällige Sorgfaltspflichtverletzung.
Der allgemein geltende Sorgfaltsmassstab, nach welchem die board-Mitglieder ihr Verhalten auszurichten haben, wird als standard of care bzw. standard of conduct (Verhaltensmassstab) bezeichnet. An diesem Massstab ändert die BJR grundsätzlich nichts. Die board-Mitglieder müssen also bei ihren Handlungen alle Sorgfalt walten lassen, nach der sich auch ein sorgfältiger Dritter unter vergleichbaren Umständen gerichtet hätte.
Für die Überprüfung einer allfälligen Sorgfaltspflichtverletzung im Verantwortlichkeits-prozess gilt allerdings ein anderer Massstab. Die Geschäftsentscheide werden dort nicht am standard of care gemessen, sondern an einem weniger strengen standard of judicial review (Überprüfungsmassstab). Um diesem gerecht zu werden, müssen die Geschäftsführungsorgane die sog. due care (gebotene Sorgfalt) einhalten. Im Zentrum stehen dabei die Anforderungen an die Informationen und das Verfahren, auf die ein Geschäftsentscheid gründet, was einer Beschränkung auf die formelle Seite der duty of care entspricht. Ist die due care eingehalten, ist zugleich auch der Schutzbereich der BJR eröffnet.
Konkret schützt die BJR das Geschäftsführungsermessen also insofern, als der Geschäftsentscheid bei erfüllten formellen Voraussetzungen keiner weitergehenden gerichtlichen Überprüfung unterzogen wird. Ist dagegen mindestens eine der BJR-Voraussetzungen nicht erfüllt, wird der betreffende Geschäftsentscheid nicht länger am standard of judicial review gemessen, sondern am allgemeinen standard of care, was einer umfassenden gerichtlichen Überprüfung gleichkommt.
2. Burden of proof
Die Geschäftsentscheide werden in den USA einerseits durch den in der BJR angelegten Überprüfungsmassstab geschützt und andererseits durch den burden of proof (Beweislastverteilung) im Verantwortlichkeitsprozess. Ausgangslage im Prozess ist die Vermutung, dass die board-Mitglieder den infrage stehenden Entscheid pflichtgemäss getroffen haben. Es ist also an der Klägerschaft, eine Sorgfaltspflichtverletzung durch die Exekutivorgane nachzuweisen. Dabei kann sie allerdings nur den Verstoss gegen eine der BJR-Voraussetzungen rügen. Gelingt ihr dies, ist die Pflichtwidrigkeit des Beklagten zwar noch nicht bewiesen, allerdings kommt es zu einer Beweislastumkehr. Es obliegt im Rahmen der anschliessenden umfassenden Überprüfung dem Beklagten, die Erfüllung seiner Pflichten nach dem standard of care zu beweisen. Solange der Geschäftsentscheid die BJR-Voraussetzungen aber erfüllt, ist eine Pflichtwidrigkeit nach dem standard of judicial review ausgeschlossen und der Verantwortlichkeitsprozess wird ohne Weiteres beendet. In diesem Zusammenhang wird die Funktionsweise der BJR oft als safe harbor (sicherer Hafen) für die Exekutivorgane bezeichnet.
3. Überblick über die Voraussetzungen der Business Judgement Rule
Nach der BJR handelt dasjenige board-Mitglied nicht pflichtwidrig, welches einen Geschäftsentscheid (business judgement/decision) auf Grundlage genügender Information (informed judgement) unabhängig (independent) und unbefangen (desinterested) trifft und in guten Treuen davon ausgeht (good faith/rational belief), im besten Interesse der Gesellschaft zu handeln. Umstritten ist dabei, ob neben den board-Mitgliedern auch die officers von der BJR umfasst sind.
Im Folgenden werden die einzelnen BJR-Voraussetzungen kurz dargestellt.
a) Business judgement/decision
Der sachliche Anwendungsbereich der BJR ist eröffnet, wenn ein/e business judgement/decision (Geschäftsentscheid) vorliegt. Eine Legaldefinition dieser Begriffe gibt es in den USA nicht. Die vorherrschende Meinung befürwortet die Anwendung der BJR unabhängig von der Art des Entscheids, solange er sich im Kompetenzbereich des Exekutivorgans befindet und sich direkt auf das geführte Geschäft bezieht.
b) Desinterestedness und independence
Die nächsten beiden Voraussetzungen sind die desinterestedness (Unbefangenheit) und die independence (Unabhängigkeit) der Entscheidungsträger. Die Exekutivorgane müssen bei ihrer Entscheidung unbefangen und unabhängig gewesen sein, andernfalls entfällt der Schutz der BJR.
Dabei gilt diejenige Person als befangen, die am betreffenden Geschäft persönlich als Partei beteiligt ist oder die ein persönliches finanzielles Interesse am Geschäftsentscheid hat. Der Anschein der Befangenheit führt bereits zur Nichtanwendbarkeit der BJR.
Die Abhängigkeit eines Exekutivorgans ist gegeben, wenn es sich beim Treffen des Geschäftsentscheids nicht nur am Wohl der Gesellschaft und demjenigen der Aktionärsgesamtheit orientiert, sondern sich von Partikularinteressen Dritter oder äusseren Quellen beeinflussen lässt.
c) Informed Judgement
Der allgemeine standard of care verlangt von den Exekutivorganen, dass sie sich vor der Entscheidung über alle dafür relevanten Umstände informieren. Gegen den in der BJR angelegten standard of judicial review verstossen sie allerdings nur bei grobfahrlässigem Nichteinholen wesentlicher Informationen. Eine solche Grobfahrlässigkeit wird insb. bejaht, wenn die Exekutivorgane die Interessen der Aktionärsgesamtheit mutwillig missachten oder die infrage stehende Handlung „ausserhalb jeder Vernunft“ liegt.
Die BJR setzt also voraus, dass sich das Exekutivorgan genügend informiert, bevor es eine Entscheidung trifft. Weiter muss der Entscheidprozess gewissenhaft ablaufen, damit die Sorgfaltspflicht nach dem standard of judicial review erfüllt ist. Kriterien zur Beurteilung des Entscheidprozesses sind unter anderem die Auswertung der eingeholten Informationen, die Erarbeitung und der Vergleich verschiedener Handlungsalternativen und die Durchführung einer für den Entscheidungsprozess ausreichenden Anzahl von Sitzungen von angemessener Dauer. Auch die Konsultation externer Experten oder Berater gehört bei fehlender oder ungenügender Expertise der Geschäftsführungsorgane zur due care.
d) Good faith oder rational belief
Die letzte unbestrittene Voraussetzung der US-amerikanischen BJR ist das Erfordernis der subjektiven Überzeugtheit der Entscheidungsträger in Bezug auf die Wahrung der Gesellschaftsinteressen. Manche Gliedstaaten sprechen in diesem Zusammenhang vom Erfordernis des good faith (guter Glaube), andere vom Erfordernis des rational belief (vernünftige Überzeugung). Eine Geschäftsentscheidung wird dann nicht von der BJR geschützt, wenn die Geschäftsführungorgane nicht gutgläubig bzw. rational überzeugt sind, dass ihre Entscheidung im besten Interesse der Gesellschaft liegt.
e) No abuse of discretion
In einigen US-Gliedstaaten geniessen sämtliche Geschäftsentscheide, die in Erfüllung der obigen Voraussetzungen getroffen werden ohne Weiteres den Schutz der BJR. Andere Staaten machen die Anwendung der BJR zusätzlich davon abhängig, dass kein abuse of discretion (Ermessensmissbrauch) vorliegt. Der Geschäftsentscheid muss in diesen Staaten im Ermessen der Geschäftsführungsorgane liegen, andernfalls findet eine Herabsetzung des Sorgfaltsmassstabs nicht statt.
f) Exclusion
Als absolute reasons for exclusion (Ausschlussgründe) der BJR gelten im US-amerikanischen Recht einerseits der Verstoss gegen zwingendes Recht und andererseits der Verstoss gegen den Gesellschaftszweck.
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Das US-amerikanische Konzept der BJR zeigt eine differenzierte und praxiserprobte Möglichkeit zur nachträglichen Überprüfung von Geschäftsentscheiden im Spannungsfeld zwischen unternehmerischem Ermessensspielraum und Verantwortlichkeit in der Geschäftsführung. Aus diesen Gründen ist sie auch für das schweizerische Recht von Interesse und Bedeutung.
Die Übernahme des Konzepts der BJR ins schweizerische Recht bedingt jedoch eine grundsätzliche Ähnlichkeit der US-amerikanischen und der schweizerischen Exeku-tivorganpflichten und Haftungsvoraussetzungen. Weil sich eine solche Ähnlichkeit identifizieren lässt, ist die BJR in der schweizerischen Rechtslehre und
-praxis seit ungefähr 20 Jahren ein prominentes und kontrovers diskutiertes Thema.
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